Kultur entsteht durch Handeln
Eine Organisation / ein Unternehmen ist immer mehr als ein Organigramm. Sie sind soziale Systeme, bestehend aus Individuen, mit Regeln und Strukturen, und unterliegen äußeren Einflüssen. Die Organisations- oder Unternehmenskultur zeigt sich hierbei weniger im Organigramm, als vielmehr in der Betrachtung der sozialen Netzwerke. Diese zeigen die Unterschiede zwischen den im Organigramm dargestellten Strukturen und der gelebten Praxis. Aus organisationspsychologischer Sicht ist diese Diskrepanz ganz entscheidend, um die Organisationskultur sowohl zu analysieren als auch zu verändern.
Soziale Netzwerke innerhalb von Organisationen lassen sich in drei Kategorien unterteilen: das allgemeine Kommunikationsnetzwerk, das Vertrauensnetzwerk und das Ratsuchenetzwerk. Das allgemeine Kommunikationsnetzwerk beschreibt dabei, mit wem arbeits- bzw. organisationsrelevante Inhalte besprochen werden. Das Vertrauensnetzwerk zeigt auf, mit wem vertrauliche, also auch private, Informationen ausgetauscht werden. Das Ratsuchenetzwerk beschreibt, bei wem Rat und Problemlösungen zu arbeitsrelevanten Fragen gesucht werden. In der Analyse dieser Netzwerke zeigt sich häufig, dass parallel zum offiziellen Organigramm informelle Beziehungen existieren, ohne die die Organisation in ihrem Erfolg / ihrer Zielerreichung geschwächt wäre. Sie prägen Arbeitsabläufe und Vorgänge in der Organisation genauso, wie es das Organigramm tut.
Edgar Schein (Mitbegründer der Organisationspsychologie) definiert die Organisationskultur als ein Muster geteilter und grundlegender Annahmen über die Lösung von Problemen, die ihre Mitglieder gelernt haben und die neuen Mitgliedern als die richtige Art und Weise vermittelt wird. Schon aus dieser Definition wird klar: Die Organisationskultur ist selten in ihrer Gesamtheit explizit und aussprechbar. Sie besteht aus einer Vielzahl impliziter Regeln, gelernter Verhaltensweisen und zahlreicher nicht offiziell definierter Kommunikationswege.
Wir haben als Kultur also im Prinzip zwei Teile: Den offiziellen formellen Teil, der allen bekannt ist, und den inoffiziellen informellen Teil, welcher zwar bekannt, aber nicht explizit ist. Beide Teile existieren miteinander und bedingen sich gegenseitig.
In zahlreichen Veränderungsprozessen ist die Rede davon, dass (auch oder vor allem) die Kultur verändert werden müsse — die Teamkultur, die Führungskultur, die Kommunikationskultur oder eben die Unternehmenskultur. Selten findet ein Gespräch darüber statt, was genau damit eigentlich gemeint ist. Die obigen Ausführungen erklären aus unserer Sicht gut, wieso das Thema Kultur so wichtig und gleichzeitig so schwergängig ist. Denn: Nicht alle Teile der Kultur sind durch die Beteiligten direkt veränderbar.
Eine erste Idee ist es häufig, sich mit Leitlinien und Werten beschäftigen. Immerhin sollen diese allen Beteiligten einen Rahmen geben und zeigen “so arbeiten wir hier” oder “so gehen wir miteinander um”. Natürlich ist die Definition von Werten und Leitlinien hilfreich, allzu oft erleben wir allerdings, dass diese im Anschluss eher in Schubladen verschwinden, als dass sie gelebt werden.
In der Systemtheorie heißt es meist: Kultur kann nicht direkt verändert werden. Das heißt: Erwünschte Verhaltensweisen aufzurufen sorgt in den seltensten Fällen dafür, dass diese Verhaltensweisen tatsächlich entstehen (erst recht, wenn wir davon ausgehen, dass sich bereits eine Unternehmenskultur etabliert hat). Werte und Leitlinien wären ein direkter Ansatz: Sie geben erwünschtes Verhalten, ohne konkrete Rahmenbedingungen zu schaffen, die sie in die tägliche Arbeit einbinden.
Ein erfolgsversprechenderer Ansatz ist die Kulturveränderung über Handlungen. In Unternehmen müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die ein erwünschtes Verhalten fördern. Wenn also ein Kulturwandel angestrebt wird, geht dies nicht ohne konkrete Veränderungen am vorhandenen System. Strukturen, Prozesse und Vorgehensweisen sind der Hebel zur Kulturveränderung.
Beispiel: Projektarbeit nutzen
Angenommen ein Unternehmen klagt über Unverbindlichkeit in der Projektabarbeitung. Die täglichen Aufgaben der Mitarbeitenden haben stetig höhere Priorität. Aufgrund des Arbeitsaufkommens geraten Projekte, die als zusätzliche Arbeit empfunden werden, immer wieder in Verzug. Hinzu kommt: Im Tagesgeschäft wird in der Regel die Aufgabe zuerst bearbeitet, bei der die Anfordernden “am lautesten schreien”. Der Wunsch: Tagesgeschäft und Projektarbeit existieren nebeneinander und den Mitarbeitenden wird es möglich, sich Zeit für Projektarbeit zu nehmen. Gleichzeitig sollen Tagesgeschäftsaufgaben nach ihrer Priorität bearbeitet werden. Im Prinzip sind diese Wünsche allen klar. Im Prinzip wissen auch alle, dass sie Zusagen über Projektarbeiten einhalten sollen und wollen dies auch. Doch: Es gelingt nicht. Ein Kulturwandel muss her! Es braucht eine Kultur, in der Verbindlichkeit einen hohen Stellenwert einnimmt, in der sich Mitarbeiter*innen trauen “Nein” zu sagen, wenn sie eine Aufgabe nicht mehr umsetzen können.
Um diese erwünschte Kultur zu erreichen, reicht es nicht, die Erlaubnis auszusprechen, sich Zeit für Projektaufgaben zu nehmen und andere Anfragen in dieser Zeit abzulehnen. Es braucht stattdessen klare Prozesse und Vorgehensweisen. Im konkreten Beispiel könnte dies bedeuten: Abteilungsweit oder gar unternehmensübergreifend wird eine einheitliche Projektzeit etabliert. Jeden Vormittag von 09.00 - 11.00 Uhr werden sämtliche Termine gestrichen, jedes Team bestimmt eine Person, die in Notfällen ad hoc anfallende Arbeiten übernimmt, alle anderen arbeiten in dieser Zeit an den vereinbarten Projektaufgaben.
Eine solche Form der Veränderung kann sich radikal anfühlen, deshalb sind auch kleine Schritte möglich: Zu Beginn startet ein Projektteam, ein solches Vorgehen umzusetzen, und sammelt erste Erfahrungen. Sobald das neue Verhalten ausreichend ausprobiert wurde, ziehen weitere Projektteams nach. Das Vorgehen in kleinen Schritten kann andere Schwierigkeiten, z.B. bei teamübergreifenden Schnittstellen, mit sich bringen.
Es nimmt aber oft die Angst davor, dass Veränderungen außer Kontrolle geraten oder nicht mehr überblickt werden können.
Klar ist: Egal welche Veränderung vorgenommen, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden: Es braucht vor allem überzeugte Führungskräfte, die zum einen mit wehenden Fahnen vorangehen, zum anderen aber auch den Beteiligten den Rücken stärken. Eine Kulturveränderung ist immer ein Prozess: Wir alle müssen neue Verhaltensweisen erst erlernen, diese in unsere vorherigen Routinen integrieren und alte Routinen zum Teil komplett ersetzen.
Wenn wir es aber schaffen, ins Handeln zu kommen anstatt (nur) Papier zu produzieren, dann können wir es auch schaffen, eine Kultur nachhaltig zu verändern.