Mehr als bunte Zettel – Mut zum Finger in der Wunde
Agile Coaching wird oft mit jeder Menge Post-its und kreativen Methoden verbunden. Und ja – diese Werkzeuge haben ihren Platz. Sie helfen, Strukturen sichtbar zu machen, Gedanken zu sortieren und neue Perspektiven zu eröffnen. Aber manchmal, da reichen bunte Zettel und gute Methoden allein nicht aus. Denn echte Entwicklung passiert nicht auf der Oberfläche – sondern da, wo es unbequem wird.
Der Workshop, der anders lief als geplant
Neulich war ich in einem Teamworkshop. Das Ziel: mehr gegenseitiges Verständnis, bessere Zusammenarbeit, mehr Klarheit über individuelle Arbeitsweisen und Bedürfnisse. Ich hatte das Riemann-Thomann-Modell vorbereitet, kombiniert mit einer Reflexion zu inneren Antreibern. Beides sehr wirkungsvolle Modelle, wenn es darum geht, Teamdynamiken sichtbar zu machen und Empathie füreinander zu fördern.
Und tatsächlich – der Einstieg lief gut. Die Teammitglieder entdeckten Unterschiede in ihren Grundorientierungen, erkannten Muster, begannen, sich gegenseitig ein Stück weit besser zu verstehen. Doch als es im nächsten Schritt darum ging, konkrete Spannungen und Reibungspunkte in der Zusammenarbeit zu benennen, blieb es ruhig. Zu ruhig.
Die Antworten blieben auf einer abstrakten Ebene: „Nähe und Distanz“, „Tempo und Sorgfalt“, „Freiheit versus Struktur“. Alles irgendwie richtig, aber nichts Konkretes. Kein echtes Thema, das greifbar wurde. Kein Konflikt, der beim Namen genannt wurde.
Intuition schlägt Agenda
In solchen Momenten spürt man als Coach: Da ist noch mehr im Raum. Aber es braucht einen Impuls, um an die Themen heranzukommen, die wirklich zählen. Mein Plan war eigentlich, mit den inneren Antreibern weiterzumachen. Aber mein Bauchgefühl sagte: Stopp. Das würde jetzt nicht weiterhelfen. Dieses Team braucht etwas anderes.
Also bin ich ausgestiegen aus meiner Agenda – und habe intuitiv eine einfache Frage in den Raum geworfen:
„Was braucht ihr wirklich voneinander, um gut zusammenzuarbeiten?“
Diese Frage hat etwas geöffnet. Plötzlich kamen Antworten, die ehrlich waren. Roh. Teilweise schmerzhaft. Auf den Karten landeten Bedürfnisse, die bisher unausgesprochen geblieben waren. Und viele davon waren im Mangel.
Ein Beispiel: Eine Karte lautete sinngemäß „Ich brauche das Gefühl, dass meine Homeoffice-Wahl nicht gegen mich verwendet wird.“
Bumm. Da war es. Ein Thema, das vorher nur zwischen Tür und Angel diskutiert wurde, das aber spürbar das Team beeinflusste – ohne dass es je offen besprochen wurde.
Der Wert des Ungeplanten
Was mich daran fasziniert: Es war kein ausgeklügeltes Tool, keine neue Methode, keine aufwendig vorbereitete Übung, das die Erkenntnis brachte. Es war ein Moment der Präsenz. Ein offenes Ohr. Und der Mut, vom Plan abzuweichen.
Solche Momente kann man nicht erzwingen, aber man kann sie ermöglichen. Indem man nicht an der eigenen Struktur festhält, sondern auf das reagiert, was gerade im Raum passiert. Coaching bedeutet eben nicht, ein starres Programm abzuspulen. Es bedeutet, mit dem zu arbeiten, was ist. Und manchmal auch: den Finger in die Wunde zu legen, wenn das Team sich selbst ausweicht.
Haltung schlägt Methode
Das bringt mich zu einem zentralen Punkt: Agile Coaching ist mehr als das Beherrschen von Frameworks und Tools. Es ist eine Frage der Haltung.
Bin ich bereit, mein eigenes Konzept loszulassen, wenn es nicht passt?
Habe ich den Mut, das Unausgesprochene zu adressieren?
Kann ich einen Raum halten, in dem auch Unbequemes seinen Platz hat?
Denn genau da entsteht Entwicklung. Nicht im Komfort, sondern an den Rändern. Wenn Teams beginnen, ehrlich über Spannungen zu sprechen. Wenn Bedürfnisse ausgesprochen werden. Wenn Menschen sich in ihrer Unterschiedlichkeit begegnen – nicht nur in der Theorie, sondern im echten Miteinander.
Was das für dich als Agile Coach (oder Führungskraft) bedeutet
Wenn du Teams begleitest – sei es als Agile Coach, Scrum Master oder als Führungskraft – dann frag dich im nächsten Workshop, im nächsten Meeting:
Wo folge ich einem Plan, obwohl mein Gefühl mir etwas anderes sagt?
Wo könnte eine einfache, ehrliche Frage mehr bewirken als eine weitere Methode?
Wo vermeide ich Konfrontation – aus Rücksicht, aber vielleicht auch aus Unsicherheit?
Agilität bedeutet Veränderungsfähigkeit. Und die beginnt mit der Bereitschaft, auch mal innezuhalten und zu sagen: „So war’s geplant – aber das hier ist jetzt wichtiger.“
Mehr Tiefe wagen
Ein guter Workshop lebt nicht von der perfekten Agenda, sondern von der Fähigkeit, präsent zu sein. Die Dynamik im Raum zu spüren. Und im entscheidenden Moment den Mut zu haben, nachzufragen, wo andere schweigen.
Agile Coaches, die echte Entwicklung ermöglichen wollen, brauchen mehr als Methodenkompetenz. Sie brauchen Haltung. Den Mut zur Intervention. Die Bereitschaft, die Komfortzone zu verlassen – auch die eigene.
Denn genau dort beginnt oft die wahre Bewegung im Team.