Und jetzt sollen wir auch noch agil werden?
Hohe Arbeitslast, Rückstände, viele Meetings und Absprachen. In den wenigsten Unternehmen langweilen sich die Menschen. Das Gegenteil ist der Fall: Druck, Stress und teilweise Überforderung begegnen uns im Alltag deutlich häufiger. In der Team- und Organisationsentwicklung sind zwei Fragen in diesem Zusammenhang besonders interessant: Wieso ist das so? Und wie geht es den Menschen damit?
Nicht selten werden zusätzlich zur sowieso hohen Arbeitslast Veränderungen angestoßen. Unter anderem die agile Transformation. Für die Betroffenen fühlt sich eine solche Veränderung wie eine zusätzliche Aufgabe an. Neben all dem, was sowieso erledigt werden muss, sollen sie nun auch noch agil werden. Für viele fühlt sich das wie eine zusätzliche Belastung an. Zum anderen fehlt die Orientierung, was agile Transformation genau bedeutet.
Steigende Komplexität sorgt immer häufiger dafür, dass “Fertigwerden” eine Entscheidung ist. Waren wir es früher vielleicht gewohnt, in regelmäßigen Abständen Aufgaben wirklich fertiggestellt zu haben, teilen wir diese heute aufgrund ihrer Komplexität vermehrt in kleine Häppchen auf. Das kann bewirken, dass manche Häppchen gar nicht mehr oder nicht mehr in vollem Umfang erledigt werden. Es entstehen (gefühlte) Rückstände: An allen Ecken und Enden könnten oder müssten wir gefühlt noch etwas tun. Wir haben zwar bewusst entschieden, einen Teil der Aufgabe wegzulassen — durch unsere alten Gewohnheiten nehmen wir das aber anders wahr. So führt das “neue” Entscheiden in der Regel zu einer Mehrbelastung. Wir haben das Gefühl, nie “richtig” mit einer Aufgabe fertig zu sein.
Wenn nun auch noch eine Personalreduktion bzw. Arbeitsverdichtung hinzukommt, wird es für betroffene Mitarbeiter*innen noch schwieriger, mit dem neu entstandenen Druck umzugehen. Sie müssen mehr leisten als früher, können die Arbeit aber nicht mehr im gewohnten Umfang bzw. mit dem gewohnten Ablauf erledigen. Die Personalreduktion ist häufig eine wirtschaftliche Entscheidung, die nicht innerhalb eines Coachingsauftrags liegt. Auch haben Coachees selten Einfluss darauf, wie viele Stellen innerhalb ihrer Abteilung geplant werden. In solchen Situationen ist es also hilfreich, im Coaching mit Teams oder Abteilungen auf das zu schauen, was innerhalb der jeweiligen Kontrolle liegt. Die agile Transformation liegt dort.
In der agilen Transformation schauen wir genau dorthin, wo es wehtut: Wodurch entstehen in Teams und bei Individuen Druck, Stress und evtl. Überforderung? Wie fühlt sich das an, wie äußert sich das? Nach dieser Analyse schauen wir auf mögliche Prinzipien, die uns in unseren zukünftigen Handlungen leiten können. So sagt das Prinzip Nr. 10 zum Beispiel:
Wenn wir anfangen, unsere täglichen Arbeitshandlungen nach genau diesem Prinzip auszurichten, fragen wir uns: Welche Aufgaben und Tätigkeiten können wir weglassen? Welche können wir vereinfachen? Wissen wir das, beschäftigen wir uns mit der Frage nach dem Wie. Bekannte Methoden, wie z. B. Kanban und Scrum liefern antworten für das Wie — sind aber nicht die einzigen Möglichkeiten. In der Regel haben Mitarbeiter*innen ganz hervorragende Lösungsideen, sobald sie sich selbst erlauben darüber nachzudenken (den Raum hierfür zu schaffen, ist Auftrag des agile Coaches).
Dabei gilt es natürlich, die anderen Prinzipien nicht aus dem Blick zu verlieren: Kundenfokus, Exzellenz und Reflexion sind hier passende Stichworte. Es muss ein Gleichgewicht in der Erfüllung der Prinzipien entstehen. Dabei ist es total okay und sogar gewollt, dass je nach Branche, Aufgabenfeld und Team die zwölf agilen Prinzipien unterschiedlich priorisiert werden. Unabhängig von der Priorisierung wird — Reflexion vorausgesetzt — ein solches Gleichgewicht entstehen.
Ist erst einmal ein Gleichgewicht erreicht, zeigt sich dies auch im Mindset und in der Haltung der Beteiligten: Die anfallende Arbeit ist sicherlich nicht weniger geworden, doch anstatt sich ausschließlich damit zu beschäftigen, wie viel Druck, Stress und Überforderung sie auslöst, fokussieren sich die Betroffenen darauf, wie sie einen anderen Umgang mit der Situation erreichen können. Diesen anderen Umgang wollen wir — und dann wird auch klar, dass die agile Transformation eben doch keine Zusatzaufgabe ist, sondern ein Vehikel, das uns lehren kann, wie wir besser mit Veränderungen umgehen können.