Tuckman reloaded: Ein veraltetes Modell mit Potenzial

Wer sich mit Teamentwicklung beschäftigt, kommt kaum an Bruce Tuckmans Modell der Teamphasen vorbei. Forming, Storming, Norming, Performing – diese vier Phasen sind seit Jahrzehnten die Blaupause für die Entwicklung von Teams. Doch so weit verbreitet und einprägsam das Modell auch ist, es hat seine Schwächen. Und es stellt sich die Frage: Ist das Tuckman-Modell nicht längst überholt?

Warum das Tuckman-Modell veraltet ist

Die Teamphasen von Tuckman stammen aus den 1960er Jahren. Die Welt, in der es entwickelt wurde, war eine andere als die heutige. Teams waren oft stabil und arbeiteten über lange Zeiträume hinweg zusammen. Heute hingegen erleben wir immer häufiger dynamische Teamkonstellationen, in denen Mitglieder kommen und gehen, Projekte kurzfristig entstehen und wieder verschwinden, und sich die Anforderungen an Teams ständig ändern.

Komplexität und Dynamik in modernen Teams

Heutige Teamarbeit ist komplexer. Teams arbeiten oft remote, sogar über verschiedene Zeitzonen hinweg, und bestehen aus Mitgliedern mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Fähigkeiten. Diese Realität wird im Tuckman-Modell nicht abgebildet. Das Modell geht von einer linearen Entwicklung aus, bei der ein Team von einer Phase in die nächste übergeht, bis es schließlich in der „Performing“-Phase stabil und produktiv ist. Doch in der Praxis sind die Übergänge oft fließender und weniger vorhersehbar.

Teams springen zwischen den Phasen hin und her, besonders wenn neue Mitglieder hinzukommen oder Projekte plötzlich eine andere Richtung nehmen. Natürlich sagt auch Tuckman, dass Teams die Phasen in alle Richtungen wechseln können (nicht umsonst wird das Modell auch Teamuhr genannt). Die Häufigkeit, in der sich Zusammenstellungen und Ziele ändern, ist mittlerweile aber deutlich höher, sodass sich die Frage stellt: Wozu noch die Phasen? Das starre Schema des Tuckman-Modells wird dieser Dynamik einfach nicht mehr gerecht.

Die Vernachlässigung emotionaler und sozialer Faktoren

Tuckmans Modell ist stark auf die Struktur und Aufgabenorientierung eines Teams fokussiert. Es berücksichtigt jedoch wenig die emotionalen und sozialen Aspekte, die in Teams eine immer größere Rolle spielen. Aspekte wie psychologische Sicherheit, Vertrauen und der Umgang mit Diversität werden im Modell kaum beachtet, obwohl sie entscheidend dafür sind, wie gut ein Team wirklich zusammenarbeitet.

Warum man das Modell trotzdem nutzen kann

Nun könnte man sagen: „Dann werfen wir das Tuckman-Modell einfach über Bord.“ Aber ganz so einfach ist es nicht. Denn trotz seiner Schwächen hat das Modell immer noch einen Wert, besonders wenn man es mit einer gewissen Vorsicht und Reflexion einsetzt.

Einfache Verständlichkeit als Vorteil

Ein Grund, warum die Teamuhr immer noch so weit verbreitet ist, liegt in ihrer Einfachheit. Sie bietet eine klare Struktur, die leicht zu verstehen und zu kommunizieren ist. Besonders für Teams, die sich zum ersten Mal mit ihrer eigenen Dynamik auseinandersetzen, kann das Modell einen ersten Anhaltspunkt bieten. Es hilft, die Entwicklung eines Teams zu visualisieren, und gibt Orientierung, wann welche Herausforderungen auftreten könnten.

Reflexionshilfe für Teamprozesse

Das Modell kann auch als Reflexionshilfe dienen. Wenn ein Team das Gefühl hat „festzustecken“, kann es hilfreich sein, die Teamphasen als Ausgangspunkt für eine Diskussion zu nutzen: „Sind wir vielleicht noch im Storming? Was hindert uns daran, in die nächste Phase zu kommen?“ Diese Reflexion kann wertvolle Erkenntnisse liefern, auch wenn die Realität oft komplexer ist, als es das Modell abbildet.

Ergänzung durch andere Modelle und Ansätze

Wichtig ist, die Teamuhr nicht als Dogma zu sehen. Sie sollte vielmehr als ein Werkzeug im Werkzeugkasten der Teamentwicklung betrachtet werden. In Kombination mit anderen Modellen und Ansätzen – wie zum Beispiel dem Konzept der psychologischen Sicherheit oder der Auseinandersetzung mit agilen Methoden – kann die Teamuhr dazu beitragen, ein umfassenderes Bild der Teamdynamik zu zeichnen.

Tuckman nutzen, aber mit Vorsicht

Die Teamphasen von Tuckman haben also sicherlich ihre besten Tage hinter sich, sind aber auch nicht komplett nutzlos geworden. Wer sie bewusst einsetzt, kann nach wie vor wertvolle Erkenntnisse daraus ziehen. Es ist jedoch wichtig, das Modell nicht unreflektiert anzuwenden und sich darüber im Klaren zu sein, dass moderne Teams oft komplexer sind, als es die vier (oder mit der Adjourning-Phase fünf) Phasen vermuten lassen.

Die Kunst in der Teamentwicklung besteht heute darin, Modelle wie das von Tuckman zu nutzen, ohne dabei die tatsächlichen Dynamiken und individuellen Bedürfnisse eines Teams aus den Augen zu verlieren. Es geht darum, Teams nicht in starren Phasenmodellen festzunageln, sondern ihnen den Raum zu geben, sich dynamisch und organisch zu entwickeln. Nur so können wir sicherstellen, dass Teams wirklich das Beste aus sich herausholen – auch wenn das bedeutet, dass sie mal eben zwischen den Phasen hin- und herspringen.


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